Das Gesamtkunstwerk (Teil 3) - Ein Streit unter Bauern

Eine kleine Schaf- und Ziegenherde pflegt das NSG Rübencamp. (Foto: M. Klein) Die Flächen sind ständig von Verbuschung bedroht. Deshalb müssen jährlich die aufkommenden Büsche und Bäume entfernt werden.
Eine kleine Schaf- und Ziegenherde pflegt das NSG Rübencamp. (Foto: M. Klein) Die Flächen sind ständig von Verbuschung bedroht. Deshalb müssen jährlich die aufkommenden Büsche und Bäume entfernt werden.

Viele Jahrhunderte lang haben in den Massenkalkgebieten die „Hollen“ das Vieh der Bauern in den Wäldern (und auf brachliegenden Flächen) gehütet. Gehölz bedeckte, nachdem die Lößböden zu Acker wurden, fast nur noch die felsigen Hänge und Kuppen. Hier gibt es die biologisch hochaktive Rendzina (Boden des Jahres 2025). Heute wachsen dort geschützte Buchenwälder, z.B. im NSG Melbecketal. Da das Vieh über lange Zeiträume immer wieder die jungen Bäume abfraß, entstanden auf den Rendzina-Böden schließlich fast baumlose Kalk-Halbtrockenrasen. Ein Relikt der Weideflächen ist das NSG  Rübenkamp bei Elspe, das wegen seiner Eigenart und Schönheit sowie der Vielfalt an Pflanzen und Tieren unter Schutz steht.
Vor 200 Jahren waren die Weiden noch kein Privatbesitz, sondern gehörten der Dorfgemeinschaft als sog. Allmende. Sie entstand aus der mittelalterlichen Bodenordnung. Konflikte wurden innerhalb der Allmendeberechtigten mit Hilfe von Regeln und Normen gelöst, die auch durchgesetzt wurden. Im 19. Jhd. gelingt das immer seltener. In der Literatur wird oft Überbevölkerung als Ursache angegeben, aber da steckt mehr dahinter, denn die „modernen Zeiten“ brachen herein, und zwar mit einem Streit unter den Bauern von Sporke und Hespecke. (aus: Heimatbätter, Jahrgang 14, S.11, 1937. „Die Schafhaltung in Sporke und Hespecke 1819“ von Norbert Scheele, Rüspe)

Am 2. Mai 1818 beauftragte der Landrat den Schultheiß Schneider aus Sporke, diesen Streit zu schlichten. Damit scheint er lange keinen Erfolg gehabt zu haben. Ein Jahr später am 2. Mai 1819 findet dann eine Sitzung mit allen Beteiligten statt. Folgender Sachverhalt wird protokolliert:
Die Dorfweiden können die Menge der Schafe nicht mehr ernähren. Zwar wurden die Berechtigungen in etwa nach der Größe des Hofes gestaffelt. Aber die drei größten Bauern - Hanses, Wissel und Püttmann – treiben allein ca. 230 Tiere auf die Weide. Die Mehrheit der Bauern hat sich zwischenzeitlich auf insgesamt 250 Tiere geeinigt. Der von beiden Ortschaften gemeinsam beauftragte Schäfer, der bereits seit 12 -15 Jahren tätig ist und 40 Tiere als Lohn erhält, erklärt, dass 250 Stück schon zu viel seien, doch Bauer Hanses beharrt darauf, „das Vieh nach seiner Willkür auf die Weide treiben zu wollen“. Als Clou oben drauf will er seine Schafe auch im Winter auf der Weide lassen, während die andern beiden Winterfutter in Förde (heute Grevenbrück) und Melbecke dazukaufen. Es kommt keine Einigung zustande.
Erst am 18. September 1819 akzeptieren alle die Lösung des Schultheißen Belke aus Niederhelden, der die Zahl der Tiere nach einem festen Schlüssel aus der bisher geleisteten Grundsteuer errechnet. Summa summarum stehen nach dieser „glücklichen“ Einigung jedoch nicht 250 (oder weniger), sondern 300 Tiere auf der Weide. Die Warnung des Schäfers vor den „Grenzen des Wachstums“ wird in den Wind geschrieben. Die Folge ist natürlich Überweidung. Genau diese Überweidung wird dann von der Obrigkeit als Beleg dafür angeführt, dass Übernutzung nur durch Aufteilung und Privatisierung verhindert werden kann, da angeblich allein Egoismus die Natur schützt.  
Das Misslingen der Allmende hatte also auch etwas mit dem Eingreifen der Obrigkeit und fehlenden Sanktionen zu tun. Der Historiker Joachim Radkau schreibt: "Im übrigen hatte die sich im späten 18. Jahrhundert massierenden Angriffe auf die Allmende etwas von einer "self-fullfilling Prophecy": Wenn sich ohnehin absehen ließ, dass die Allmende über kurz oder lang aufgeteilt werden würde, handelte einer nur rational, wenn er aus ihr schnell noch möglichst viel herausholte. Das war die wahre "Tragödie der Allmende"..." (Radkau: Natur und Macht; S. 93)

Caspar David Friedrich: Der einsame Baum (Staatl. Museen Berlin, Nationalgalerie) Bildnachweis: Themenpark Landschaft und Heimat, Hrsg.: Landeszentrale für Umweltaufklärung Rheinland-Pfalz; 2007
Caspar David Friedrich: Der einsame Baum (Staatl. Museen Berlin, Nationalgalerie) Bildnachweis: Themenpark Landschaft und Heimat, Hrsg.: Landeszentrale für Umweltaufklärung Rheinland-Pfalz; 2007

Die kleinste Hofstelle durfte vorher 8, jetzt aber nur noch 6 Schafe halten. Die Allmende ermöglichte eine Form von Unterstützung für Bauern, deren Hof nur mit Restflächen ausgestattet war. Als spätestens in den 1830er Jahren die Allmenden als unzeitgemäß unter den Nutzungsberechtigten aufgeteilt wurden, verloren die alten unterbäuerlichen Schichten der Dorfhandwerker und Kleinstellenbesitzer, die oft auch ohne Berechtigung Wald und Weide mitbenutzen konnten, die Grundlage für eigene Viehhaltung und Heizung. Sie mussten in Übersee oder in den Städten eine neue Existenzgrundlage suchen, wussten aber noch nur zu gut, welche existenzielle Bedeutung Boden hat. Deshalb wurde für die ersten Arbeitersiedlungen das Reihenhaus mit Garten erfunden.   
Über Jahrhunderte funktionierte die Allmende. Sie wurde nicht aktenkundig. Allerdings bestand immer das Konfliktpotenzial mit dem Nachbarn und das ermöglichte im entscheidenden Moment das „Eingreifen“ des Staates. Die Preise für Wolle standen hoch und der merkantilistische Staat brauchte mehr Geld für den Machterhalt. Im 19. Jahrhundert geschahen dann eng verzahnt zwei Dinge:
1.    der mittelalterliche Gesellschaftsvertrag wurde endgültig aufgekündigt. Im Mittelalter galt das Prinzip: Boden ist Gemeineigentum. Seine Nutzung wird auf Zeit zugeteilt.
2.    Die Unabhängigkeit von der Natur wird postuliert, was nur im Zusammenhang mit dem Kolonialismus zu verstehen ist. Alles begann also lange bevor die Kohle den "Fortschritt" explodieren ließ.
Neues Gedankengut macht sich breit. Albrecht Thaer prägt 1804 den Begriff der „rationellen Landwirtschaft“. Landwirtschaft wird definiert als Gewerbe, dessen Zweck es ist, den „möglichst höchsten Gewinn unter allen Verhältnissen aus dem Betrieb zu ziehen.“ Nur vier Jahre später (1808) schrieb Graf York von Wartenburg in einem Brief: „Doch läuft es eigentlich darauf hinaus, dass ein Grundbesitz sein soll wie ein Thaler Geld, der durch die Circulation sich vervielfältigt, wobei noch durch die Stempelgebühren etwas für den Staat abfällt. … Wie aber wird das schöne Land bei diesem Plusmachersystem verwüstet werden!

Brief von Graf York von Wartenburg, zit. Nach: J.G.Droysen: Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg, Leipzig 1897, S. 159 in; Industrie-Natur; F.J. Brüggemann, M. Toyka-Seid (Hg.) Campus 1995
 Der Graf befürchtete, im Wald könnten nur noch wenige, schnell wachsende Arten angebaut werden, während fast alle übrigen Flächen in Kornäcker verwandelt würden, da sie den meisten Profit versprächen. Er sollte Recht behalten. Nicht zufällig entstehen in dieser Zeit romantische Gemälde von Hirtenszenen und von durch Herden entstandene Natur. Auf die letzten Hudebäume hat der Naturschutz seine ersten Bemühungen gerichtet.
Allmenden als Sozialstruktur haben über Jahrhunderte fast konfliktfrei funktioniert und wurden zum Symbol für die ursprüngliche, symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Natur. Radkau schreibt, dass diese „Ära der Ökologie der Subsistenz“ von zwei Säulen getragen wurde:
1.    Subsistenz sorgt dafür, dass Fehler in der Bewirtschaftung direkt bemerkt werden und unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden können.
2.    Schweigendes Wissen (tacit nowledge) umfasst tradierte Selbstverständlichkeiten, die nur selten aufgeschrieben werden und nur zwischen den Zeilen von Dokumenten zu erkennen sind. (eine Handlung „kann nicht anders gedacht werden“)
„Die Hauptschwäche der Subsistenzwirtschaft war wohl nicht ökologischer, sondern politischer Art: Da sie nicht in dem Maße Machtpotentiale hervorbrachte wie die mehrwertorientierten Wirtschaftsweisen, geriet sie leicht unter Fremdherrschaft,...“(J. Radkau: Natur und Macht S. 54)
Das war aber nicht nur in historischen Zeitaltern so, sondern ist auch heute weltweit im Gange und mit starken sozialen Verwerfungen verbunden. Insbesondere alle Allmenden dieser Welt stehen unter hohem Druck. (Stichwort: Land Grabbing)

Die „Ära der Subsistenz“ hat bei uns nur noch kleine Relikte in der Landschaft hinterlassen, wie das NSG Rübenkamp. Heute ist ihre Konservierung eine Aufgabe groß wie die Instandhaltung des Kölner Doms, aber mit weniger Prestige, Geld und Fachpersonal.